Nils Mojem

Nils Mojem

Mein Name ist Nils, ich habe vor kurzer Zeit mein Studium der Kulturwissenschaft in Berlin beendet. Mit der Abgabe meiner Masterarbeit sind auch meine beiden Stellen als studentischer Beschäftigter am Institut Futur und am Zentrum für Technik und Gesellschaft ausgelaufen. Trotz dem Verlassen der Universität setze ich mich weiterhin kritisch mit Themen wie Environmental Justice, Sozial-Ökologischer Transformation und den Herausforderungen und Implikationen eines/des neuen Erdzeitalters auseinander. In diesem Zusammenhang interessieren mich insbesondere unterschiedliche Formen von Erzählungen der Geschichte und Entwicklung der gegenwärtigen (multiplen?) Krise sowie die ebenso vielfältigen Vorstellungen und Narrative möglicher wünschenswerter Zukünfte. Die Vielfältigkeit unterschiedlicher Positionen und Situationen in Bezug auf den gegenwärtigen Zustand des planetaren Lebens und die zahlreichen, oft noch nicht oder zu wenig mitgedachten Möglichkeiten von Zukünften außerhalb bekannter Wissensordnungen und Strukturen, bringen mich in diesem Zusammenhang immer wieder zu der Frage, wer welche Geschichte(n) für wen, wie und warum erzählt?

Auch an dem Ort, an dem ich in Berlin lebe, gibt es viele unterschiedliche Geschichten.
Ich wohne gemeinsam mit zwei anderen Menschen zusammen, die anderswo auf der Welt geboren wurden. Unsere Wohnung liegt an einer großen und vielbefahrenen Straßenkreuzung. In meinem Haus wohnen: MusikerInnen, eine Köchin, eine Gräfin mit zwei Kindern, ein angehender Rechtsanwalt, eine Studentin der Biotechnologie und – erst seit kurzem – ein junges Paar, welches ich noch nicht weiter kennen lernen konnte. Im ersten Stock steht seit Monaten eine Zahnarztpraxis leer und im Erdgeschoss befindet sich ein Kompetenzzentrum für Jugendbildung.
Vor meinem Fenster stehen große alte Kastanienbäume. An der nächsten Ecke befindet sich ein Therapiezentrum für suchtkranke Menschen, auf der gegenüberliegenden Straßenseite findet man ein Mehrgenerationenhaus/Nachbarschaftsheim. Auf dem Grünstreifen zwischen der doppelspurig befahrenen Straße schreit nachts manchmal eine einsame Frau, die sich tagsüber zu freuen scheint, wenn man ein paar nette Worte mit ihr wechselt. Auch sie gehört mit ihrem Einkaufswagen, in welchem wohlmöglich ihr ganzes Hab und Gut liegt, ebenso zur Nachbarschaft, wie die immer zahlreicher werdenden jungen Familien mit schicken Lastenrädern und die Menschen, die in ihren dicken SUV’s die Straße langfahren.

Neben diesen menschlichen Nachbarn leben an meiner Ecke noch zahlreiche Singvögel, Krähen und Tauben. Auch Ratten rascheln zahlreich durch das Gebüsch der Straßenbegrünung. Im letzten Jahr trieb sich noch zwischen den parkenden Autos und den Mülleimern öfter ein zerzauster Fuchs herum. In diesem Jahr habe ich ihn noch nicht erspähen können, dafür aber verbringt mittlerweile ein Mäusebussard immer wieder etwas Zeit auf den Schornsteinen der meinem Fenster gegenüberliegenden Häuser – auch diesen nehme ich als Teil meiner Nachbarschaft war.
Meine Nachbarschaft ist in stetigem Wandel begriffen. Meine Nachbarn sind die verschiedenen Wesen dieser Stadt. Sie alle haben eine und viele Geschichten. Manche Geschichten davon sind sehr präsent, andere werden verschwiegen und/oder ignoriert. Einige vergehen unbeachtet, neue kommen hinzu. Viele dieser Geschichten sind menschlich, viele weitere sind es nicht. Die meisten dieser Geschichten überschneiden und begegnen sich irgendwie. Zum Beispiel an der Straßenecke, an welchem das Haus steht, in dem ich wohne.

Weniger Traum, vielmehr Hoffnung, Wunsch, Wille, Mut und Zuversicht lassen in mir oft das Bild einer veränderten Form des Gemeinsamen entstehen. Diese ist fluide und im Wandel begriffen, wird stets neu erlebt und gestaltet. Es ist eine veränderte Form der Begegnung über die Grenzen des eigenen Ichs, der eigenen Bedürfnisse und individuellen Wünsche hinaus, sodass an die Stelle von Gier, eigensinnigem Selbstbezug, Hast und Beschleunigung eine Art des Teilens tritt, welche Zeit, Gedanken und Gefühle ebenso miteinschließt wie materielle Güter. Es ist eine Beziehung, die viele Lebensformen miteinschließt. In dieser Vorstellung wird die zugleich ausufernde und einschränkende Macht eines zerstörerischen und auf Ungleichheitsverhältnissen aufgebauten Wirtschafts- und Wissenssystems überwunden und in einen oder mehrere friedfertigere, gegenseitigere und bewusstere Formen des Austausches und der Begegnung überführt.

Die Formen des Austausches gesunden dabei dadurch, dass alte Gewissheiten überwunden, verlernt und neugedacht werden (können). Scheinbar festgeschriebene Positionen, Hierarchien und Dualismen lassen sich in dieser Vorstellung auflösen und Beziehungen und Verhältnisse neu Erfahren und gemeinsam gestalten.